Dritte Flotte

Dr.-Ing. Evra Selanne

Lebenslauf

Im Gegensatz zu den meisten anderen Besatzungsmitgliedern der Liyquaze gelang es den Ermittlern durch Entzug von Hygieneartikeln und ähnliche Maßnahmen, Evra Selanne zum Reden zu bringen. Sie besaß allerdings nur wenige wertvolle Informationen.

Scheidungskinder

Evra würde nie behaupten, dass sie eine schwierige Kindheit hatte, obwohl sie sicher "kompliziert" war; aber dies zuzugeben würde ja das Zulassen menschlicher Affekte bedeuten. Wer ihr dennoch wirklich zuhören will, kann eine umständliche Scheidungsgeschichte von ihr hören, die darin gipfelt, dass sie schon vor ihrem zehnten Geburtstag nicht mehr viel mit traditionellen Familienbeziehungen am Hut hatte und die eigenen Eltern nur als "Verwandtschaft" bezeichnet. Die Fürsorge der Eltern war demnach wohl bestenfalls als nachlässig zu bezeichnen, der einzige wichtige Mensch in ihrem Leben fortan ihr Cousin Avier, zunächst wohl nur, weil sie unter einem Dach lebten und sich miteinander arrangieren mussten. Ein sozialer Mensch war Evra noch nie gewesen und sie fand auch an ihrer neuen Schule keine Freunde, als sie ihre Altersgenossen intellektuell bald meilenweit hinter sich ließ. Vor den Eltern hatte sie sich bereits verschlossen, in der Schule langweilte sie sich und hielt ihre Klassenkameraden für unterbelichtet; natürlich stempelten die sie dafür zur Außenseiterin.

Avier sah, was andere erst viel später begriffen: dass Evra etwas Besonderes war. Bald geriet er aus dem Wunsch heraus, seine kluge "Schwester" zu beschützen und zu fördern, auf die schiefe Bahn — und wurde erwischt. Im Gegensatz zu ihrem ansonsten distanzierten Umgang mit ihren Mitmenschen besuchte Evra ihn regelmäßig im Jugendgefängnis, und viel häufiger, als dies seine Eltern taten. Vermutlich litt Evra stärker unter seiner Haft als er selbst, aber die Trennung hat das Band zwischen ihnen, dieses Gefühl von "wir gegen den Rest der Welt", eher noch gefestigt. Heute ist er immerhin der Einzige, der sie trotz ihrer starken Keimphobie anfassen darf (solange es unter drei Sekunden dauert und ein Desinfektionstuch zur Hand ist).

Hackerkarriere und Technokratie

Als nach Aviers Haftantritt gar keiner mehr auf ihr Sozialleben Einfluss nehmen konnte, zog Evra sich endgültig in sich selbst zurück. Sie schloss sich nachts in ihrem Zimmer ein und machte sich als Hackerin einen Namen, denn in der Computerwelt fand sie Zuflucht. Sie brach in zahlreiche gesicherte Systeme ein, nur um zu beweisen, dass sie es konnte. Sogar etwas Geld verdiente sie damit, und sie nutzte es hauptsächlich, um ihr wachsendes Interesse an der Hacker-Subkultur zu finanzieren. Ihr erstes Implantat bezahlte sie so, einen versteckten Datenträger unter der Haut, und spätestens ab dem Zeitpunkt war sie süchtig nach Perfektion: nach äußerlicher wie innerer Perfektion, und da der menschliche Körper und Geist fehlerhaft sind — dafür war ihre gesamte Lebenswirklichkeit der schlagende Beweis — müssen Droiden die logische Antwort auf ihre Bedürfnisse sein. Droiden brauchen keine Freunde, Droiden kann man nicht weh tun. Die Freiheit von Affekten wurde ihr Leitmotiv.

Irgendwann nutzte Evra allerdings dann doch ganz unfrei von Affekten ihre Fähigkeiten am Computer, um Rache an ihren Klassenkameradinnen zu üben, die sie nach wie vor hänselten. Das gelang ihr durchaus, brachte aber durch die persönliche Note auch die Polizei auf ihre Spur. Dass sie für ihre zahlreichen Computerverbrechen nie in Jugendhaft gesteckt wurde, verdankte sie einem innovativen Richter, der ihr Potenzial erkannte: In den letzten Jahren ihrer Schulzeit musste sie für die Strafverfolgungsbehörden arbeiten, was ihre Fähigkeiten sogar noch vertiefte, ihr aber auch einen ersten Einblick in die Skrupellosigkeit der so genannten Gesetzeshüter gewährte: Als Minderjährige im Holonetz lockte sie Triebtäter in die Falle, half beim Aufspüren illegaler Tauschbörsen und auch "richtiger" Computerverbrecher und zweimal sogar indirekt bei der Zerschlagung von zwei Terrorzellen mit. Dass sie dadurch theoretisch selbst in die Schusslinie geriet oder weiteren psychischen Schaden nehmen könnte, schien auch bei der Polizei niemanden zu jucken. Apropos "jucken": In dieser Zeit entwickelte sich wahrscheinlich auf Grundlage ihrer Droidenmanie auch noch ihr überbordendes Hygienebedürfnis.

Ingenieursstudium

Diese Arbeit war trotzdem durchaus befriedigend, Evra lernte viel dazu und fühlte sich irgendwo auch endlich in ihren Fähigkeiten bestätigt. Immerhin ermöglichten ihr die viel zu spät involvierten Eltern dann noch, ein Schuljahr zu überspringen, aber für eine Versöhnung war es viel zu spät. Am Ende saß sie nur ihre Pflichtzeit ab und wandte sich dann, noch nicht ganz volljährig, ihrem Studium zu, das sie inzwischen parallel zum verfrühtem Schulabschluss als Juniorstudentin aufgenommen hatte. Wieder war es Avier, der ihr dies alles mit seinen krummen Touren finanzierte, so lange, bis er erneut verhaftet wurde und diesmal den richtigen Knast von innen sehen musste. In kürzester Zeit absolvierte Evra unterdessen ihr Studium, erwarb ihr Diplom und schaffte es, ihren Ruf in der Hackergemeinde wieder ein wenig aufzupolieren — ohne die lästige Polizeiarbeit hatte sie ja nun die nötige Freizeit dafür.

Allerdings verzichtete sie auf erneute Gesetzesverstöße aus Langeweile oder Ruhmsucht. Vielmehr glaubte sie, an der Universität die perfekten Rahmenbedingungen für ihr tiefes Streben nach Verständnis zu haben, schrieb zahlreiche Fachartikel, forschte und reichte schließlich mit gerade einmal 24 Jahren ihre Dissertation ein, im Prinzip eine makellose Beweisführung für die selbständige Entwicklung bestimmter "emotionaler" Verhaltensmuster bei unbeaufsichtigten künstlichen Intelligenzen unter klar definierten Rahmenbedingungen. Ihre Idee war sicher nicht neu und letzten Endes höchstens ein kleiner Beitrag im ewigen philosophischen Disput über die Menschlichkeit von Droiden — aber ihre wissenschaftliche Herangehensweise war dennoch innovativ und erwähnenswert.

Brillant fanden sie sogar die Aktivisten der "Droid Rights"-Bewegung, der sie schon lange angehörte. Die konservative Fachwelt allerdings reagierte mit Hohn und Spott. Manch ein Kritiker bezeichnete Evra als mutig und gefährlich, andere wiederum brandmarkten sie gar als die Befürworterin eines neuen Droidenaufstands — lächerlich. (Als ob höhere Wesen wie Droiden so etwas nötig hätten!) Niemand war letzten Endes bereit, mit überalterten Dogmen aufzuräumen, die vor vielen tausend Jahren zum Schutz einer verängstigten Gesellschaft aufgestellt wurden — so Evras Interpretation, wenn man sie heute fragt —, und sie verlor zwar nicht die Verteidigung ihrer Dissertation, wohl aber den Respekt der Forschungswelt. Daran war sie ja schon irgendwie gewöhnt aber nun hatte sie, viel schlimmer, umgekehrt auch ihren eigenen Respekt vor den forschenden "Kollegen" verloren, vor den Leuten, von denen sie sich unvoreingenommenes Verständnis erträumt hatte. Nein, zu denen wollte sie sich ganz bestimmt nicht zählen lassen.

Abkehr von der Gesellschaft

Als Avier das zweite Mal aus dem Gefängnis kam, war Evras Kampfgeist gebrochen. Sie hatte ihn in den letzten Monaten immer seltener besucht und inzwischen ihre wissenschaftliche Laufbahn ganz an den Nagel gehängt, wollte nur noch weg von allem. Innerhalb seiner letzten Haftmonate hatte sie aus rein pragmatischen Erwägungen das Fliegen von Raumschiffen gelernt, die für sie nichts anderes sind als große, mobile Computer mit zahlreichen Zusatzfunktionen, und mit diesem Flugschein bewarb sie sich bei einer großen Spedition. Mit ihren Qualifikationen wurde sie mit Kusshand genommen, und auch für Avier wurde eine Arbeit als Wachmann gefunden — ihre einzige Bedingung anstelle einer richtig guten Bezahlung war es, dass sie zusammen arbeiten konnten.

Monate später fielen sie beide in alte Muster zurück, wurden auffällig und mussten die Firma wechseln. So gerieten sie an "Jok Enterprises", eine Spedition mit indirekten Verbindungen zur Dritten Flotte. Gerade, als Evra dort abermals wegen der Manipulation von Droidenprotokollen festgesetzt werden sollte, wurde ihr Schiff überfallen. So gerieten sie nach Vergesso Prime und später an die Besatzung der Liyquaze, wo man gerade händeringend nach Leuten suchte, um den auf Naboo gestrandeten Niek Dschany zu retten.

Arbeit für die Mafia

So waren Evra und ihr Vetter maßgeblich am Durchbruch der Liyquaze durch die Blockade der Dritten Flotte beteiligt und beschlossen danach, auf dieser "Empfehlung" aufbauend auch in den Diensten des Syndikats zu bleiben. Und deshalb wurden sie dann auch zusammen mit dem Rest der Besatzung auf Trigalis verhaftet. Evra fiel es von allen Inhaftierten noch am schwersten, die Haftbedingungen zu ertragen und dem Verhör zu widerstehen. Am Ende konnte sie, wie schon gesagt, nicht viel von Wert verraten, aber vermutlich leidet sie seither unter der Furcht, dass ihr neuer Boss, der dem sicher geglaubten Tod doch noch einmal von der Schippe sprang, davon erfahren könnte. Denn man weiß ja, was die Mafia mit Plappermäulern macht...