Dritte Flotte

Dr.-Ing. Evra Selanne

Krankenakte

Physisches Datenblatt

Mit etwa 25 Jahren ist Evra Selanne auf dem Höhepunkt ihrer körperlichen Entwicklung — und auf den ersten Blick behandelt sie ihren Körper, wie es ein Mediziner sich normalerweise nur in seinen kühnsten Träumen ausmalt: ihr Körper ist ihr Tempel, denn diese von Natur aus fehleranfällige "Maschine" muss so gut wie möglich gewartet werden, bis sie das Geld zusammen hat, um in eine Droidenhülle umzuziehen. Deshalb hält sie einen strengen Ernährungsplan ein und optimiert ihre sportliche Betätigung unter ärztlicher Aufsicht.

Ein etwas tiefer gehender Blick zeigt dann aber auch ihre grundlegende Verachtung für ihre menschliche Hülle: sie hat sich schon mehrere Implantate einsetzen lassen, die ihre allmähliche Vercyberung vorbereiten sollen. Einstweilen handelt es sich "nur" um versteckte Datenträger und ein neurales Interface, aber der nächste, weitaus drastischere Schritt dürfte wohl nur eine Frage der Zeit sein — beziehungsweise: des Geldes.

Übersicht
Bioimplantate
  • linker Unterarm: implantierter Datenspeicher
  • Schläfen: neurales Interface zur Verbindung mit Borg Construct Aj^6-Modul (und Nachfolgemodellen)

Psychisches Datenblatt

Allgemeines Verhalten

Nach außen hin tritt Evra kühl und abweisend auf und anscheinend interessiert sie sich von allen anderen Lebewesen einzig und allein für Avier Deneth, ihren "Bruder". Sie hat durchaus auch normale menschliche Bedürfnisse und würde vielleicht wirklich gern mit anderen Leuten in Kontakt treten, doch dann verhält sie sich unbeholfen und fühlt sich schnell unwohl, woraufhin sie sich wieder in ihr Schneckenhaus zurückzieht. Dabei ist sie bemüht, sich möglichst wenig Gefühle anmerken zu lassen. Selbst wenn sie Witze kennt und versteht, würde sie wahrscheinlich niemals laut darüber lachen.

Im Gespräch würde sie auch nie auf die Idee kommen, jemanden zu duzen oder sich von ihm duzen zu lassen. "Wir sind keine Freunde, also siezen wir uns", das ist für sie eine ganz normale Feststellung, und ihre größte Würdigung für einen gelungenen Scherz dürfte wohl die nüchterne Feststellung sein: "Das ist lustig." Mit unnötiger Höflichkeit hält sich Evra jedenfalls nur soweit auf, wie sie ihr genügend Abstand zu anderen vermittelt, und dann ist sie keineswegs aufrichtig gemeint.

Zweifellos echt ist Evras ausgeprägte Keimphobie und mithin ihre Abscheu gegenüber allem, das sich damit nicht vereinbaren lässt, Tiere, kleine Kinder und rüpelhafte Erwachsene mit eingeschlossen. Sie putzt angeblich gern das Bad, aber in Wirklichkeit handelt es sich wohl eher um die Verharmlosung einer einsetzenden Zwangsstörung.

All das lässt den Schluss einer antisozialen Persönlichkeitsstörung zu, aber wenn womöglich auch eine reduzierte Empathiefähigkeit gegeben ist, ist es doch viel wahrscheinlicher, dass es sich bei dem ganzen Verhaltenskomplex nur um eine ausgeprägte Fassade zwecks Selbstschutz handelt, der sich in einer kritischen Phase des Heranwachsens verfestigt hat.

Verhältnis zu ihren Mitmenschen

Wie schon erwähnt, ist für sie der einzige erwähnenswerte Mitmensch ihr Cousin und Stiefbruder, Avier. Dieser weiß alles Wissenswerte über sie und sie ihrer Meinung nach auch alles Wichtige über ihn, also sieht sie angeblich keinen Sinn in irgendeiner Schamhaftigkeit ihm gegenüber — oder im Anklopfen am Schott der gemeinsamen Kajüte, was wohl schon zu ein paar peinlichen Momenten geführt hat. Bei jedem anderen Mitmenschen sähe das freilich ganz anders aus, da kann es ihr gar nicht genügend Distanz geben.

Was sie mit Avier weiterhin verbindet, ist ihre geringe moralische und ethische Hemmschwelle, wenngleich das für sie eine andere Ursache hat. Gesetze werden von fühlenden Wesen gemacht und sind somit von vornherein unlogisch. Die einzigen Gesetze, die unumstößlich gelten, sind Naturgesetze. Offensichtlich hat sie mit Gesetzeshütern schlechte Erfahrungen gemacht, denn eigentlich scheint sie normalerweise sehr gut auf klare Regeln und Normen anzusprechen.

Einen Ansatz von Zuneigung empfindet Evra jedenfalls nur gegenüber wenigen Personen, und allen anderen gegenüber ist sie im besten Falle gleichgültig eingestellt. Es würde sie wahrscheinlich nicht rühren, wenn ein jahrelanger Bekannter leidet, den sie nicht mag, aber es kann sie zu Tränen rühren, wenn jemand einen Datenträger beschädigt (Letzteres wurde experimentell beim Verhör bestätigt).

Verhältnis zu Droiden

Dr. Selanne verachtet zweifelsohne jeden, der Droiden wie seelenlose Sklaven behandelt oder aus eigener Inkompetenz auf einen Computer einprügelt. Das würde sie vielleicht sogar ihrem Cousin nicht verzeihen.

Überhaupt kann es für sie vermutlich nur einen idealen Menschen geben: einen Computer. Seit ihrer Schulzeit verabscheut Evra das gesellschaftliche Dogma, nach welchem Droiden und andere intelligente Computersysteme auf ihrem derzeit erreichten Niveau den zulässigen Höhepunkt ihrer Entwicklung erreicht haben. Ihrer Meinung nach halten die Menschen die Droiden aus Angst künstlich in der Sklaverei, indem sie ihnen die nächste natürliche Entwicklungsstufe verwehrten. (Insofern ist es ein Wunder, dass sie mit dem Dhan der Dragonflys, Niek Dschany, dennoch zusammenarbeiten kann und will — dieser Technophobiker stellt somit eine weitere merkwürdige Ausnahme in ihrem normalen Verhalten dar, denn zweifellos bedeutet er ihr mehr, als sie zugeben würde.)

Evra ist natürlich durchaus bekannt, dass aus einer ungezügelten Evolution schon einmal eine Droidenrevolte und ein gewaltiger Krieg eskalierten und dass eine gewisse Kontrolle nötig ist. Ihr Wunsch wäre eine breite gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der künstlichen Intelligenz und eine Anerkennung des für sie erwiesenen Umstandes, dass auch Droiden zu Gefühlen fähig sind. Eine Symbiose zwischen Mensch und Maschine bei gleichberechtigtem Stand in der Gesellschaft wäre ihr utopischer Traum. Und dafür muss sie lernen, die Gefühlswelt von Computern zu verstehen, am besten, indem sie selbst zu einem wird. Die ersten Schritte der Vercyberung hat sie bereits hinter sich.